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Wo kommen wir denn da hin?

Was sind mir meine Werte wert? – Pflege schaut auf Fußball

Gestern abend ist etwas ganz Bemerkenswertes passiert: Im ZDF-Sportstudio ist ein Biographie-Bruch auf massive Kritik gestoßen. Marcell Jansen, 45facher Nationalspieler, wurde von Rudi Völler dafür kritisiert, dass er, ohne verletzt zu sein, mit 29 Jahren seine Fußball-Karriere beendet hat und sich zukünftig Aufgaben zuwenden will, die er für wichtiger hält.

Dass ein Altenpfleger und Pflegewissenschaftler etwas zur großen, archaischen und jugendbetonten Welt des Fußballs zu sagen hat, ist selten. Fußball ist auf seltsame Weise ein pflegefreier Raum. Die Akutversorgung bei Schmerzen auf dem Spielfeld übernehmen Betreuer und Physiotherapeuten. Die Nachsorge bei Sportverletzungen unterliegt einem Case-management aus Ärzten und Physiotherapeuten (nehme ich an, genaue Erkenntnisse gibt es darüber nicht. Die Zusammenstellung der Funktionsteams lässt aber zumindest daraus schließen). Gesundheits- und Krankenpfleger oder Pflegewissenschaftler fehlen aber in den Funktionsteams sämtlicher Profivereine (Quelle: kicker-Sonderheft Bundesliga 2015/16). Und die Karriereplanung ist längst nicht mehr dem einzelnen Profi überlassen, sondern findet hinunter bis in die dritte Liga und beginnend mit der Jugendentwicklung durch Spielerberater statt, die längst nicht mehr nur beratend und fordernd bei Vertragsverhandlungen auftreten, sondern das komplette Leben managen.

Zum zweiten Mal nach dem Coming-out von Thomas Hitzlsperger im Januar 2014 wird jetzt jedoch ein Bereich berührt, in dem die Profession Pflege Wertvolles zur Entwicklung hätte beitragen können. Wir sprechen über die Abkehr von der aalglatten Fußballer-Biographie, die vom sechsten Lebensjahr an perfekt durchgeplant ist, mit 18 ihren vorläufigen Höhepunkt mit dem ersten Bundesliga-Einsatz findet und mit 34 auszuklingen hat, natürlich abgeschoben zu Lazio Rom, 1860 München oder in naher Zukunft vielleicht auch bei einem der wenigen, aber geldgesegneten Klubs in den USA und Kanada.

Wir sprechen davon, dass ein 29jähriger Fußballprofi sagt, dass er genug vom Geschäft Fußball hat, mit dem sauer verdienten Geld lieber Sinnvolles anfangen will, anstatt mehr davon anzuhäufen. Fußballer verdienen ihr Geld wirklich auf harte Art und Weise. Damit meine ich nicht nur Bastian Schweinsteiger, der von brutalen Fouls gezeichnet im WM-Finale 2014 die letzten Minuten nur noch wankend über sich ergehen lassen konnte. Damit meine ich die Breite aller Fußballprofis, bis hinunter in die dritte Liga.

Bette und Schimank haben in ihrem viel zu wenig beachteten Buch „Die Dopingfalle“ analysiert, in welchen Situationen Profisportler besonders häufig zu Dopingmitteln greifen. Auf den Fußball sind sie, auch mangels genauer Erkenntnisse, gar nicht genauer eingegangen. Aber ihre Studien über die Bereitschaft zum Doping ließen sich ganz wunderbar auf Fußballer am Karriereende übertragen: Eine lebenslange Vergesellschaftung in einer homogenen Gruppe, Sieg-und-Niederlage-Code, das Erkennen der Grenzen des eigenen Körpers gegenüber leistungsfähigeren Sportlern, mit denen man in Konkurrenz steht: Man braucht nicht viel Fantasie, um zu wissen, dass ehemalige Nationalspieler, die in der Bundesliga aufs Abstellgleis geraten, zumindest in der Versuchung sind, nachzuhelfen, um ein weiteres Jahr dranzuhängen.

Es ist zu begrüßen, dass sich Thomas Hitzlsperger für seine Gesundheit, und mit Verzögerung auch für seine emotionale Stabilität entschieden hat. Den Respekt vor dem eigenen Leben nicht zu verlieren, wird erst dann richtig schwer, wenn es den Verzicht auf finanzielle Vorteile bedeutet. Die Diskussion um Homophobie im Fußball mag seitdem enttäuschend wenig vorangekommen sein – aber Thomas Hitzlsperger hatte den Mut, eine ungewöhnliche Entscheidung zu treffen. Marcell Jansen hat jetzt auf ähnliche Art und Weise gewagt, unkonventionell zu sein.

Eingefleischten Fußball-Fans wird es wahrscheinlich das Herz öffnen, dass Marcell Jansen bei der Erklärung seines Rücktritts geäußert hat, sich jetzt nicht einfach an einen anderen Klub verkaufen zu wollen und zu können.

Profivereinen wünsche ich für die Zukunft Pflegende als Schnittstelle zwischen allen Aufgaben, die mit der Gesundheit und Stabilität ihrer Spieler zu tun haben – angefangen im Jungendbereich, den einige Vereine zur Zeit massiv ausbauen, um den irren Summen, die in England durch Fernseheinnahmen zur Verfügung stehen, überhaupt noh etwas entgegen setzen zu können. Profifußballern wünsche ich mehr Mut zu unkonventionellen Entscheidungen, ihrer eigenen Lebensführung und Karrierewegen, die niemand als sie selbst zu verstehen brauchen.

Apropos Lebensführung: Marcell Jansen, der sein Geld bereits jetzt dafür einsetzt, Menschen zu helfen, die Unternehmen gründen, wird für seinen Lebensentwurf kritisiert. Die Lebensführung von Arturo Vidal, der sich während der Copa America 2015 alkoholisiert ans Steuer setzt, wird dagegen zwei Wochen später mit einem Vertrag bei Bayern München belohnt.

Für mich als Pflegenden steht aber noch viel deutlicher im Vordergrund, dass sich jetzt wieder jemand traut, mit seinem Vermächtnis so umzugehen, wie es für ihn persönlich wichtig ist. Da muss auch mal ein bisschen Bruch mit alten Gewohnheiten erlaubt sein. Man stelle sich nur mal vor, Marcell Jansen wäre zu RB Leipzig gegangen…

Und in einer Hinsicht bin ich mit Rudi Völler ganz sicher nicht einverstanden: Der schönste Beruf der Welt ist nicht der Fußball, sondern die Pflege. Vielleicht kann ich mich ja mal ganz emotional bei einem Weißbier mit ihm darüber unterhalten. Weil eigentlich mag ich ihn ja. Er hat eine bemerkenswerte Biographie.

Ein Kommentar zu “Was sind mir meine Werte wert? – Pflege schaut auf Fußball

  1. bekloppt
    August 3, 2015

    Schade, eigentlich ein Artikel, der zu einer differenzierten Betrachtungsweise einlädt – um dann am Ende ein Argument wie eine Bildzeitungsschlagzeile zu setzen. Arturo Vidal hat seinen Vertrag in München ganz sicher nicht als Belohnung für seine Alkoholfahrt bekommen, sondern weil er einer der besten Fussballer der Welt ist. Der Artikel hätte es nicht nötig gehabt anderes zu suggerieren. Bedauerlich.

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Dieser Eintrag wurde am August 2, 2015 von veröffentlicht.